1. Eine Frau aus Deutschland
Es war einmal eine Frau namens Theresia, eine gebürtige Deutsche, geboren im Jahr 1877. Wann genau sie nach Österreich-Ungarn (spätere Tschechoslowakei) ausgewandert ist, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit sagen. Doch vieles spricht dafür, dass es noch vor der Jahrhundertwende geschah. Dort, in einem Land, das von politischen Umbrüchen und kultureller Vielfalt geprägt war, erwarb sie ein Grundstück mit einem Bauernhof.
Acht Kinder brachte sie zur Welt – eines davon war Marie, meine Großmutter, geboren im Jahr 1904.
2. Ein Burgenland-Kroate namens Johann
Mein Großvater Johann kam 1896 als eines der ältesten Kinder einer zehnköpfigen Familie zur Welt. Er war Burgenland-Kroate, seine Wurzeln lagen in der Gegend um Großpetersdorf.
Johann kämpfte sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg. Doch darüber sprach er kaum. Was Krieg bedeutet, wusste er – aber es war kein Thema, das Einlass in sein späteres Leben fand.
3. Liebe in Zeiten des Krieges
Marie und Johann begegneten einander während des Krieges. Die Unterlagen geben nicht viel preis – nur Bruchstücke, aus denen sich ein Bild formen lässt. Marie blieb in der Tschechoslowakei (ehemals Österreich-Ungarn), sie heirateten zwischen 1942 und 1945.
Im Alter von 41 Jahren brachte Marie ihre erste Tochter zur Welt: Helga, meine Mutter. 1947 folgte ihre zweite Tochter, Johanna. Laut einem Passierschein aus dem Jahr 1949, der heute noch existiert, reisten sie schließlich gemeinsam nach Wien ein.
4. Neubeginn am Rande Wiens
Johann und zwei seiner Brüder erwarben jeweils ein eigenes Grundstück in Wien, im heutigen Bezirk Donaustadt-Stadlau – auf sogenannten „aufgeschütteten Gründen“. Es handelte sich dabei um günstiges Neuland, das die Möglichkeit eines bescheidenen Eigenheims bot.
Sie bauten selbst. Mit billigsten Mitteln, mit gegenseitiger Hilfe. Doch während der Bauphase kam es zu Streitigkeiten. Die Familie lebte zeitweise im Rohbau, zwischen unverputzten Wänden und provisorischen Schlafstätten.
Es hieß, Marie hätte noch ein weiteres Kind bekommen sollen – doch die harte Arbeit auf der Baustelle und ihr fortgeschrittenes Alter forderten ihren Tribut. Sie verlor das Kind.
Beeindruckend bleibt, wie Johann, inzwischen selbst Anfang 50, bereit war, nochmals ganz von vorne zu beginnen. Über die Vergangenheit sprach er kaum. Der Krieg war für ihn ein abgeschlossenes Kapitel, über das man besser schwieg.
5. Helga und das unerhörte Ohr
Dort, am Stadtrand von Wien, wuchsen Helga und Johanna auf. Helga, meine Mutter, hatte ein Handicap, das in ihrer Kindheit und Jugend nicht erkannt wurde: Sie war auf einem Ohr taub.
In der Schule verstand sie oft die Fragen nicht, die an sie gerichtet waren. Man hielt sie für zurückgeblieben – ein Urteil, das schnell gefällt wurde. Sie kam in eine Sonderschule. Eine Lehre durfte sie nicht machen. Nach der Pflichtschule arbeitete sie als Packerin am Fließband.
6. Die andere Linie – Felix und Aloisia
Über meine Urgroßeltern väterlicherseits ließ sich nichts in Erfahrung bringen. Mein Großvater Felix wurde 1916 geboren und diente im Zweiten Weltkrieg. Aloisia, geboren 1926 – vermutlich in Österreich –, war eine Frau, die ihren Vornamen nicht mochte. Später ließ sie sich nur mehr Luise nennen.
Felix und Luise lernten sich vermutlich während des Krieges kennen – denn im Februar 1944 kam mein Vater zur Welt. Nach dem Krieg, als Felix heimkehrte, heirateten die beiden. Es existieren Bilder, die Hochzeitsfotos ähneln – darauf zu sehen: mein Vater, noch ein kleiner Bub.
Er war ein fescher junger Mann, wurde später Schlosser und leistete pflichtbewusst seinen Militärdienst ab. Den Alkohol mochte er da schon. Vielleicht war das sein Weg, mit den Dingen fertigzuwerden, die man nicht aussprach.
7. Ein Gasthaus, ein Fußballplatz – und dann kam ich
1964 kreuzten sich die Wege meiner Eltern. Sie lebten nicht einmal sechs Kilometer voneinander entfernt. Es war wohl der Fußballplatz – mein Vater war als junger Mann ein begeisterter Kicker. Oder vielleicht ein Gschnas, ein Tanzabend, ein Gasthaus. So genau weiß das heute niemand mehr.
Im August 1965 heirateten sie. Ich war der Grund – im Oktober desselben Jahres kam ich zur Welt.
Zunächst lebten sie im kleinen Haus meiner Großeltern in der Donaustadt-Kagran. Mein Vater wohnte bis dahin mit seinen Eltern in einer noch kleineren Wohnung. Auch meine Tante, damals 18, lebte mit uns unter einem Dach. Ebenso Theresia, meine Urgroßmutter.
Ein Schlafzimmer, ein Kabinett, eine Küche, ein Wohnzimmer – mehr war es nicht. Das Klo war zwar bereits im Haus, hatte aber keine Spülung und keine Heizung. Gewaschen wurde sich in einem Lavoir in der Küche.
Ende 1966 war meine Mutter erneut schwanger. Der Platzmangel wurde drückender. Johanna, meine Tante, hatte inzwischen ihren Mann Kurt kennengelernt – aber eine leistbare Wohnung war auch für sie schwer zu finden. Sie heiratete im Frühjahr 1967.
Genau zu dieser Zeit wurde meinen Eltern eine Gemeindewohnung zugesprochen.
8. Das Jahr 1967 – Zwischen Anfängen und Abschieden
1967 war ein Schicksalsjahr. Im Juli brachte meine Tante ihren Sohn Christian zur Welt. Wenige Tage später starb Theresia, meine Urgroßmutter. Am 9. September gebar meine Mutter eineiige Zwillinge: Sonja und Sylvia. Nur einen Tag darauf, am 10. September, verstarb mein Großvater Felix.
Auch über diese tiefgreifenden Ereignisse wurde in unserer Familie kaum gesprochen. Nur eine kleine, stille Notiz blieb: Felix hatte die Nachricht über die Geburt seiner Enkelinnen noch erhalten.
Meine Eltern bezogen die neue Gemeindewohnung – 60 Quadratmeter, auf denen nun fünf Menschen lebten. Und wieder diese Familienanekdote: Niemand wusste, dass meine Mutter Zwillinge erwartete.
Damals war die medizinische Versorgung noch nicht so weit, und Sonja hatte von Geburt an einen Herzfehler. Ihre Herztöne ließen sich wohl nicht eindeutig einem zweiten Kind zuordnen. Ob es gar keinen Ultraschall gab, weiß ich nicht – jedenfalls wurden meine Eltern von zwei Kindern überrascht.
Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt 23, meine Mutter 21 Jahre alt.
9. Vaterlos im Alltag
Meine Kindheit war… in Ordnung. Papas Abwesenheit fiel nicht auf. Das Geld war immer knapp. Aber es war nicht dramatisch. Natürlich hätte ich mir manchmal eine bestimmte Puppe gewünscht oder davon erzählt, dass wir Ausflüge machten – wie andere Kinder in meiner Klasse. Doch im Großen und Ganzen war es gut.
Papa war nie wirklich anwesend gewesen. Wenn er zu Hause war, mussten wir leise sein. Bei Mama im Bett schlafen – das ging dann nicht. An viel mehr erinnere ich mich nicht. Nur Bruchstücke.
Aus den Gesprächen der Erwachsenen erfuhr ich später: In den frühen 1970er-Jahren wollte mein Vater den Führerschein machen. Wenige Tage vor der Prüfung hatte er betrunken einen Unfall – ein Kind lief ihm vors Auto. Um es nicht zu überfahren, lenkte er sein Auto in parkende Fahrzeuge. Der Führerschein wurde ihm entzogen. Es kostete viel Geld, welches wir nicht hatten. Vater musste einen Kredit aufnehmen und wurde wenig später für längere Zeit arbeitslos.
Trotz allem erlaubte er meiner Mutter nicht, wieder arbeiten zu gehen. Bis 1978 war es nämlich notwendig, dass der Vater oder Ehemann einer Berufstätigkeit zustimmte. Und er verweigerte diese Zustimmung.
10. Das Jahr 1976 – Die Wunde, die niemand ernst nahm
1976 war ein Jahr, das sich still ankündigte. Kein Knall, kein Vorzeichen – nur ein kleiner Riss. Meine Mutter meinte, sie habe sich mit dem BH ein Muttermal aufgekratzt. Es blutete, nässte. Sie sagte, es sei nichts. Ich war elf, als ich begann, ihr täglich den Verband zu wechseln. Ganz selbstverständlich. Ich wusste ja nicht, was das bedeutete – nur, dass ich vorsichtig sein sollte, damit es nicht wehtat.
Die Wunde wurde nicht besser. Im Gegenteil. Anstelle des Muttermals wuchs etwas, das wie ein Pilz aussah. Als sie dann doch zum Arzt ging, war die Stelle etwa drei Zentimeter groß. Der Hautarzt entfernte den Tumor ambulant – und veranlasste eine Gewebeprobe. Es ging plötzlich alles sehr schnell. Viel schneller, als ich damals begreifen konnte.
Wir feierten Weihnachten noch gemeinsam. Es war ruhig, vielleicht auch ein wenig verhalten. Am 6. Jänner musste sie ins Spital. Ich durfte sie einmal besuchen. Nur ein einziges Mal. Meine Schwestern waren zu klein. Sechs Tage nach meinem Besuch, am 29. Jänner 1977, starb sie.
Ich
weiß nicht, ob ich den Moment verstanden habe, in dem man mir sagte, dass sie nicht mehr kommt.
11. Das Leben nach Mamas Tod
Nach dem Tod meiner Mutter war mein Vater nicht in der Lage, uns alleine großzuziehen. Luise, inzwischen mit Franz, ihrem zweiten Ehemann verheiratet, war das erste halbe Jahr bei uns. Es war eine schreckliche Zeit. Meine Schwestern und ich vermissten unsere Mutter sehr. Niemand konnte die Liebe und Wärme von Mama an uns weitergeben.
Außerdem war es
auch die Zeit, in der Sonja am Herzen operiert werden musste, ihre Herzklappenverwachsung wurde beseitigt. Sie wird ihr Leben lange ein große Narbe am Brustkorb haben. Ich weiß es so genau, weil
ich es war, die sie alleine zu sämtlichen Untersuchungen begleitet hat - ich war 11, Sonja war 9.
Luise und Franz fühlten sich nicht im Stande, uns weiter laufend zu betreuen, also suchten sie für uns ein Vollinternat. Gelandet sind wir bei den Salvatorianerinnen in Kaisermühlen. Auch die Schule mussten wir wechseln. Mein Lichtblick damals war, dass wir im Internat viel mehr Kontakt zu anderen Kindern hatten. Aber es war auch eine harte Zeit – ich fühlte mich sehr alleine auf dieser Welt. Schon damals hatte ich das Gefühl, dass ich anders bin. Es fiel mir schwer, mich in Gruppen zu integrieren. Außerdem war es uns nicht erlaubt, uns nach der Schule mit Freundinnen zu treffen. Das Internatsleben war zwar ausgefüllt, aber den Kontakt zu Mitschülerinnen hatte ich nur in der Schule.
12. Weitere Veränderungen und Umzüge
Nachdem das Internat für drei Kinder sehr teuer war, konnte mein Vater es sich nur ein Schuljahr lang leisten. Danach wurde uns gesagt: Vater hat nun eine neue Frau. Sie hatte ein Haus im Bezirksteil Aspern, in das wir über den Sommer ziehen sollten. Es war nicht wirklich kinderfreundlich – wir wurden im ausgebauten Keller des Hauses untergebracht. Die Kellerfenster fühlten sich wie Gefängnisfenster an. Währenddessen wollte mein Vater unsere Gemeindewohnung umbauen, damit er und seine neue Frau Helene, genannt Leni, dort mit uns einziehen können. Leni war acht Jahre älter als Papa und hatte bereits erwachsene Kinder. Ihre Tochter Hilde wohnte ebenfalls dort im Haus mit ihrem Mann Hubert, genannt Mecki, und ihrer kleinen Tochter Sandra. Dieser Kellersommer war sehr einschneidend für mich – bei fremden Menschen, ohne echte Kommunikation, ohne die Möglichkeit, wie andere Jugendliche den Sommer mit Baden und Freunde treffen zu verbringen.
13. Das Leben mit einer fremden Frau und einem fremden Vater
Nach diesem Kellersommer war die Gemeindewohnung umgebaut, und Leni, Vater und wir drei sind dorthin gezogen. Papa hat sich weiterhin kaum um uns gekümmert. Er und Leni arbeiteten sehr viel, da sie sich wenig später ein Grundstück in Hirschstetten auf Kredit gekauft hatten. Sie wollten sich dort ein Haus bauen. Wir waren sogenannte Schlüsselkinder: Morgens beim Aufstehen waren wir schon alleine, nach der Schule mussten wir sofort heim. Es gab regelmäßige Kontrollanrufe am Festnetz von Papa. Wir hatten uns auch um den Haushalt zu kümmern – Wäsche waschen in der Gemeinschaftswaschküche im Keller, sämtliche Schuhe der Familie putzen, zusammenräumen, einkaufen und vieles mehr. Einzig kochen mussten wir nicht, was ich im Nachhinein bedauerte, da der Kochunterricht in der Schule nicht ausreichte, um es wirklich zu lernen. Wir durften nicht zum Spielen in den Hof, wir durften auch sonst kaum etwas – weder Kino, noch Eislaufen oder ähnliches. Einzig am Sonntag war es uns erlaubt bzw. mussten wir in die Kirche gehen und durften im Anschluss auf den Friedhof zu Mamas Grab fahren. Auch die Besuche bei den Großeltern waren davon abhängig, ob wir uns gut benommen hatten.
14. Hausbau – jugendliche Dummheiten – erster Job
Papa und Leni begannen bald mit dem Bau am erworbenen Grundstück. Neben ihren vielen Stunden in der Arbeit waren sie nun auch die restliche Zeit auf der Baustelle. Natürlich nutzten meine Schwestern und ich diese Zeit auch, um viele Dummheiten zu machen. In den freien Zeitfenstern feierten wir Partys, tranken zum ersten Mal Alkohol, rauchten. Auch die Jungs wurden für mich interessant. Ich wollte in der wenigen gestohlenen Freizeit alles reinpacken, was andere während des ganzen Jahres machten. Als Leni und Papa im Sommer allein drei Wochen Urlaub in Lenis Heimat Kärnten machten, ließen wir daheim die Sau raus. Partys mit 20 Personen in der Wohnung, die eskalierten. Die negative Krönung war, als ich mit 15 um 4 Uhr morgens von der Polizei aufgegriffen wurde, weil ich keinen Ausweis dabei hatte. Vater musste aus Kärnten kommen und mich abholen. Die Prügel danach werde ich nie vergessen.
Als ich nach diesem Sommer in die HAK gehen wollte und auch den Aufnahmetest dafür bestand, hat es mir mein Vater verboten. Fünf weitere Jahre Schule wollte er sich nicht antun, also durfte ich nur in die HASCH eintreten. Aber auch diese durfte ich nur ein Jahr besuchen – Vater meinte, ich würde sowieso irgendwann heiraten und Kinder bekommen, da genügt das schon. Nur per Zufall entdeckten er und Leni auf ihrem Heimweg ein Inserat bei einem Steuerberater, wo eine jugendliche Praktikantin gesucht wurde. Also kamen sie heim, und ich musste mich dort bewerben. Ich wurde genommen: Am Freitag habe ich die Schule abgeschlossen, und am Montag begann der Job.
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